Twistringen (Niedersachsen)

Datei:Twistringen in DH.svg Twistringen ist eine Kleinstadt (bestehend aus acht Ortschaften) mit derzeit ca. 12.500 Einwohnern im niedersächsischen Landkreis Diepholz - rund 30 Kilometer südwestlich von Bremen gelegen (Kartenskizzen 'Landkreis Diepholz' und 'Ortsteile von Twistringen', Hagar 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Aus dem Jahre 1739 stammt der älteste urkundliche Nachweis jüdischer Ansiedlung in Twistringen: Es ist ein auf die Person von Jacob Kallmann ausgestellter Schutzbrief des Fürstbistums Münster. Bis Anfang des 19.Jahrhunderts haben nur zwei jüdische Familien in Twistringen gelebt; in der Folgezeit stieg ihre Zahl langsam an, so dass sich eine kleine Gemeinde bilden konnte.

In den 1840er Jahren erwarb diese ein Haus in der Bachstraße und richtete hier einen bescheidenen Betraum ein, der an hohen Feiertagen auch von Juden aus Barnstorf und Bassum aufgesucht wurde. Im gleichen Gebäude gab es auch einen Schulraum; hier wurden die jüdischen Kinder des „Schulverbandes Twistringen-Heiligenloh-Ehrenburg“ unterrichtet; allerdings blieb die Lehrerstelle zeitweilig vakant, weil der Lehrer nicht bezahlt werden konnte. Um 1860 wurde die etwa drei Jahrzehnte bestehende Religionsschule geschlossen; knapp 30 Jahre später ließ man diese wieder aufleben, die nun als Elementarschule mit etwa zehn Schülern geführt wurde. Kurz nach der Jahrhundertwende wurde die Schule endgültig geschlossen.

Zu den gemeindlichen Einrichtungen gehörten neben einer Mikwe auch ein Friedhof, der nördlich des Ortes an der Straße nach Binghausen lag und vermutlich etwa 1780 (oder wenig später) angelegt worden war; der älteste vorhandene Grabstein datiert aus dem Jahre 1820.

Dem 1843 gebildeten Synagogenbezirk gehörten auch die Ortschaften Ehrenburg, Heiligenloh, Schmalförden, Wesenstedt und Köbbinghausen an.

Juden in Twistringen:

    --- um 1770 ........................ eine jüdische Familie,

    --- 1814 ...........................  9 Juden,

    --- 1833 ........................... 31   “  ,

    --- 1858 ........................... 40   “  ,

    --- 1885 ........................... 37   “  ,

    --- 1895 ........................... 38   “  ,

    --- 1905 ........................... 28   “  ,

    --- 1925 ........................... 39   “  ,

    --- 1933 ........................... 27   “  ,

    --- 1939 ...........................  8   “  .   

Angaben aus: N.Kratochwill-Gertich/A.C.Naujoks (Bearb.), in: H. Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen ..., Bd. 2, S. 1475

Ak Twistringen Niedersachsen, Bahnhofstraße, Sattlerei 0Bahnhofstraße in Twistringen - hist. Postkarte (Abb. aus: oldthing.de)

 

Die Twistringer Juden bestritten ihren Lebensunterhalt vornehmlich vom Vieh- und Textilhandel.

Zu antisemitischen Vorfällen kam es in Twistringen bereits vor der NS-Machtübernahme 1933: Schaufensterscheiben wurden bei verschiedenen jüdischen Geschäftsleuten mit NS-Parolen beschmiert und auch zertrümmert, ein Ladenbesitzer wurde tätlich angegriffen. Mit Beginn der NS-Herrschaft nahmen die antijüdischen Attacken in Twistringen zu. Am 1.April 1933 zog ein SA-Trupp aus Bassum vor den Geschäften dreier jüdischer Kaufleute auf. Als sich in der Folgezeit die Anfeindungen verstärkten, verkauften die ersten jüdischen Familien ihre Geschäfte und verließen Twistringen.

Während des Novemberpogroms von 1938 waren die noch in Twistringen verbliebenen jüdischen Bewohner massiven Übergriffen ausgesetzt; die Männer wurden „in Schutzhaft“ genommen, ihre Angehörigen in den Wohnungen festgehalten; währenddessen durchsuchten SA-Angehörige ihre Wohnungen und beschlagnahmten aufgefundene Wertgegenstände. Nachdem Teile der Synagogeneinrichtung ins Freie geschleppt worden waren, setzte man das Gebäude in Brand. Unter den Augen zahlreicher Einwohner Twistringens – die Kinder hatten aus diesem Anlass schulfrei bekommen - brannte das Gebäude bis auf die Umfassungsmauern nieder; diese wurden dann zum Einsturz gebracht.

Anfang des Jahres 1939 lebten nur noch acht Juden im Ort; alle sollen in den folgenden Jahren deportiert und ums Leben gekommen sein.

1947 bzw. 1951 wurden zwei Tatbeteiligte am Novemberpogrom von 1938 in Twistringen zu kurzen Haftstrafen verurteilt.

 

Seit 1985 erinnert ein Gedenkstein in der Bachstraße - nahe des ehemaligen Synagogengrundstücks - an die jüdischen Twistringer Bürger; dessen Inschrift lautet:

In dieser Straße stand das Gotteshaus unserer jüdischen Mitbürger.

Es wurde am 10. November 1938 durch Brandstiftung zerstört.

„Vernimm, O Herr, mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen.“

Psalm 39, Vers 13

Neben dem Gedenkstein sind auf einer jüngst erstellten Informationstafel die Namen derjenigen jüdischen Bewohner zu lesen, die Opfer der Shoa geworden sind.

Eine Straße Twistringens – der Rosa-Silberberg-Ring – wurde nach einer einst im Ort lebenden Jüdin benannt; sie kam Ende 1942 in Theresienstadt ums Leben.

Auf dem an der Straße „Zur Poggenmühle“ liegenden jüdischen Friedhofsareal - es hatte eine Größe von ca. 2.000 m², heute nur noch ca. 600 m² - findet man derzeit noch nahezu 50 Grabsteine und -relikte.

Jüdischer Friedhof Twistringen 2010 012.JPG

Jüdischer Friedhof Twistringen (alle Aufn. Merbalge, 2010, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0)

Jüdischer Friedhof Twistringen 2010 078.JPG Jüdischer Friedhof Twistringen 2010 064.JPG Jüdischer Friedhof Twistringen 2010 043.JPG Jüdischer Friedhof Twistringen 2010 030.JPG

Jüngst haben „Unbekannte“ einzelne Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof in Twistringen umgeworfen und beschädigt (2024).

 

 

 

Weitere Informationen:

L. Funke-Westermann/Friedrich Kratzsch, Geachtet und geächtet. Twistringen und seine Juden 1933 – 1943, Harpstedt 1985 (2.Aufl. 1992)

Friedrich Kratzsch, Zwischen Kriegen, Kreuz und Hakenkreuz. Twistringen und sein Umland 1919 - 1939, in: "Veröffentlichungen des Stadtarchivs Twistringen", No. 6, Bassum 1997, S. 237 f.

Friedrich Kratzsch, Der jüdische Friedhof in Twistringen und jüdische Begräbnissitten, in: "Twistringen für Sie", 20. Jg., Heft 4/1999

Heinz-Hermann Böttcher, Der Jüdische Friedhof in Twistringen – Dokumentation, Maschinenmanuskript, Syke 2003

Nanca Kratochwill-Gertich/Antje C. Naujoks (Bearb.), Twistringen, in: Herbert Obenaus (Hrg.), Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen und Bremen, Wallstein-Verlag, Göttingen 2005, Band 2, S. 1475 – 1482

Christoph Starke, Als in Twistringen die Synagoge gebrannt hat, in: "Weserkurier", Nov. 2011

Ulrich Knufinke, Stätten jüdischer Kultur und Geschichte in den Landkreisen Diepholz und Nienburg, hrg. vom Landschaftsverband Weser-Hunte e.V, Nienburg 2012

Sabine Nölker (Red.), Vor 75 Jahren. Nach der Reichspogromnacht brennt das jüdische Gebetshaus. Kinder haben schulfrei, in: kreiszeitung.de vom 30.10.2013

Jüdischer Friedhof in Twistringen (mit zahlreichen Aufnahmen vom Begräbnisgelände), online abrufbar unter: commons.wikimedia.org/wiki/Category: Jüdischer_Friedhof_Twistringen

Jens-Christian Wagner (Bearb.), TWISTRINGEN - Novemberpogrome 1938 in Niedersachsen, online abrufbar unter: pogrome1938-niedersachsen.de/twistringen/

Sabine Nölker (Red.), Jüdischen Opfern ein Gesicht geben, in: kreiszeitung.de vom 14.5.2020

Fabian Raddatz (Red.), Unbekannte verwüsten jüdischen Friedhof in Twistringen: Ermittlungen laufen, in: „MK – Kreiszeitung“ vom 12.2.2024 und 14.2.2024